Prof. Dr. Patrick Gödicke RiOLG, Frankfurt a.M./Karlsruhe

Voll beherrschbare Haftung? - Traktionsstab

Voll beherrschbare medizinische Risiken führen rasch zur Haftung, da nun gem. § 630h Abs. 1 BGB bereits eine Pflichtverletzung des Arztes vermutet wird. Umso kritischer bleibt die Einordnung eines Risikos als voll beherrschbar, umso aufmerksamer aber auch der Blick auf Fallkonstellationen, inwieweit ein voll beherrschbares Risiko als Schadensquelle überhaupt in Betracht zu ziehen ist.

 

 

 

Auch bei der Anwendung eines Medizinprodukts, dessen Anwendung rasch als voll beherrschbar zu beurteilen ist, bleibt Sorgfalt bei der Einordnung angebracht. Auch der vorliegende Fall insoweit erfolglos.

 

 

 

Der Fall:

Die Kl. begehrt die Zahlung von Schmerzensgeld und die Feststellung der Einstandspflicht der Bekl. für sämtliche materiellen und unvorhersehbaren künftigen immateriellen Schäden wegen einer behaupteten Fehlbehandlung im Hause der Bekl. am 03.07.2015. An diesem Tag unterzog sich die Kl. einer durch den Bekl. zu 2) als Operateur durchgeführten Hüftgelenksarthroskopie. Hierbei kam es unstreitig zu Druckschäden an der Scheide der Kl., verursacht durch einen bei dieser Art der Operation anzuwendenden Gegenzugstab, der auf die Schamgegend drückt.

 

 

 

 

Die Entscheidung des Gerichts:

Das OLG setzt zutreffend bei der Beweislast der Patientin an, die volle Beherrschbarkeit nachzuweisen, und sieht diesen Beweis auch in Abgrenzung von einem Lagerungsschaden als nicht erbracht an: „Die Vermutung des § 630 h Abs. 1 BGB knüpft an Risiken an, die ärztlicherseits voll ausgeschlossen werden können und müssen, die also nicht auf dem von den Unwägbarkeiten des lebenden Organismus beeinflussten Kernbereich ärztlichen Handelns beruhen […]. Dass es sich um einen solchen vollbeherrschbaren Bereich handelt, steht aber zunächst zur Beweislast des Patienten, der hierfür den Vollbeweis führen muss“.

Dieser Beweis sei der Kl. nicht gelungen: „Der vorliegende Schaden beruht nicht auf einer Lagerung der Kl. im engeren Sinne, sondern unstreitig auf dem Einsatz des sogenannten Traktionsstabes. Um die Arthroskopie durchführen zu können ist es erforderlich, Zugkraft auf das Bein auszuüben, die nur mit einem Gegendruck erreicht werden kann, der mithilfe dieses Traktionsstabes erzeugt wird. Der Sachverständige hat plausibel geschildert, dass dies erforderlich sei, um Platz für die Operation zu schaffen. Zugkraft und Gegendruck seien je nach Patientensituation, Situation der Gelenkkapsel, Elastizität und Narkosetiefe individuell zu wählen. Weder könne die erforderliche Zugkraft im Vorhinein gemessen werden, noch könne man zwischendurch die Traktion unterbrechen, mit anderen Worten eine Druckentlastung durchführen, weil sich ansonsten die Operationssituation mit den damit einhergehenden Risiken verändern würde. Er hat erklärt, dass die erforderlichen Zugkräfte weder im Vorhinein „planbar“ seien, noch intraoperativ dergestalt beherrschbar, dass auf eine eventuell ungünstige Drucksituation vorbeugend mit einem Nachlassen des Drucks reagiert werden könne.“

Das OLG verdeutlicht damit v.a., dass die volle Beherrschbarkeit von Behandlungssituation zu Behandlungssituation unterschiedlich ausfallen kann, auch wenn das Produkt als solches – auch – voll beherrschbar einsetzbar sein mag. Auf welchen maßgeblichen Anteil der Verursachung der konkrete Schaden eintrat, hielt das OLG dabei für nicht aufklärbar, sondern letztlich eine Mutmaßung, womit – da es insoweit (noch) nicht um Mitverursachung, sondern volle Beherrschbarkeit geht – die Anwendbarkeit von § 630h Abs. 1 BGB ausschied: „Die Ausführungen des MDK-Gutachters stehen dem nicht entgegen. Diese sind bereits in sich inkonsistent insoweit, als der Privatgutachter einerseits mutmaßt, es sei entweder wegen einer ungünstigen Lagerung der Patientin in Bezug auf die Position des Gegenzugstabes oder aber aufgrund des notwendig hohen Zuges trotz „ausreichender“ Polsterung zu einer Druckschädigung gekommen, andererseits an anderer Stelle ohne weitere Begründung postuliert, der Druckschaden sei „aufgrund einer unzureichenden Polsterung“ in Kombination mit einer langen Operationsdauer zustande gekommen. Abgesehen davon hat derselbe Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten - eingeholt während des laufenden erstinstanzlichen Verfahrens - seine ursprünglichen Ausführungen noch weiter relativiert, indem er ausführte, dass die Kombination aus langer Operationszeit und erheblicher Traktion zwar das Risiko solcher Weichteilschäden erhöhe und hier „theoretisch“ zwar eine insuffiziente Polsterung des Gegenzugstabes in Betracht komme, letztere jedoch anhand der vorliegenden Unterlagen nicht belegt werden könne“.

 

 

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31.10.2022

Informationen

OLG Dresden
Urteil/Beschluss vom 01.06.2021
Aktenzeichen: 4 U 20921

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