Armin Preussler FA f. Bau- u. ArchitektenR und VergR

Schätzung des Auftragswerts

Die Bestimmung des Auftragswerts nach § 3 VgV erfordert eine Schätzung des Gesamtwerts der vorgesehenen Leistung. Bei Bauleistungen für mehrere Gebäude kommt es auf den funktionalen Zusammenhang an. Wenn die Bauwerke dieselbe wirtschaftliche und technische Funktion erfüllen, ist auf den Gesamtwert abzustellen, so die VK Bund in ihrem Beschluss vom 06.07.2023 - VK 2-46/23 (noch nicht bestandskräftig; Beschwerde beim OLG Düsseldorf, Az. Verg 27/23)

 

Sachverhalt

Der Auftraggeber schrieb im Unterschwellenbereich Bauleistungen für die Errichtung eines von vier geplanten Gebäuden aus. Neben der späteren Antragstellerin beteiligte sich ein weiteres Unternehmen, die spätere Beigeladene, an dem Verfahren, in welchem der Preis das einzige Zuschlagskriterium war. Zuvor hatte der Auftraggeber einen Planungsauftrag für vier nahezu baugleiche Gebäude mit einer Unterbringungskapazität von insgesamt 600 Plätzen vergeben und wollte nun ein Gebäude nach dem anderen ausschreiben, wobei er beim ersten Gebäude von einem Auftragswert unterhalb des Schwellenwerts ausging.

 

Fünf Tage nach Erhalt der Absage des Auftraggebers, dass ihr Angebot nicht das wirtschaftlichste sei, rügte die Antragstellerin die ihrer Ansicht nach fehlende Eignung der Beigeladenen und erhielt vom Auftraggeber mit der Rügezurückweisung die Mitteilung, dass der Auftrag bereits an die Beigeladene erteilt worden ist. Die Antragstellerin rügte daraufhin, dass der Auftragswert bei Berücksichtigung aller vier Gebäude den Schwellenwert überschreite, die Bieterbenachrichtigung § 134 GWB nicht entspreche und der Auftraggeber die Wartefrist nicht eingehalten habe. Auch diese Rüge wies der Auftraggeber zurück und begründete dies damit, dass nach der vorliegenden wirtschaftlich und zeitlich iterativen Planung beabsichtigt sei, und die Ausführung der anderen drei Gebäude nach Genehmigung der Kosten ausgeschrieben werden würden. Hiergegen beantragte die Antragstellerin die Einleitung des Nachprüfungsverfahrens bei der Vergabekammer des Bundes.

 

Die Antragstellerin argumentierte, dass die zeitlich versetzte Errichtung mehrerer, zu einem Gesamtbauwerk gehörenden Gebäude im Baubereich den Regelfall darstelle, da die Finanzierung auf mehrere Haushaltsjahre verteilt werde.

 

Entscheidung

Der Nachprüfungsantrag ist zulässig und begründet. Der einschlägige Schwellenwert für die verpflichtende europaweite Bekanntmachung

gem. § 106 Abs. 1 GWB ist überschritten. Dabei kommt es vorliegend nicht entscheidend darauf an, ob der Auftraggeber eine inhaltlich zutreffende Auftragswertschätzung für das eine Gebäude vorgenommen hat. Ausschlaggebend ist, dass die vier Gebäude für Zwecke der Auftragswertschätzung als Einheit anzusehen sind. In dieser gebotenen Gesamtbetrachtung ist der Schwellenwert in jedem Fall überschritten.

 

Nach § 3 Abs. 1 VgV ist eine Schätzung vorzunehmen, die vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ausgeht. Dabei darf die Auftragsvergabe nicht so unterteilt werden, dass sie nicht in den Anwendungsbereich des GWB fällt, es sei denn, es liegen objektive Gründe dafür vor (§ 3 Abs. 2 S. 2 VgV). Für die Beurteilung, ob die Arbeiten an verschiedenen Bauaufträgen untereinander auf eine solche Weise verbunden sind, dass sie letztlich als Arbeiten an einem einheitlichen Bauwerk anzusehen sind, ist auf eine funktionale Betrachtung abzustellen und darauf, ob die verschiedenen Baumaßnahmen dieselbe wirtschaftliche und technische Funktion erfüllen (s. EuGH, Urteil vom 15. März 2012 - Rs. C-574/10). Vorliegend hat der Auftraggeber ausweislich der Vergabe der Planungsleistungen seinen Beschaffungsbedarf so definiert, dass er auf der fraglichen Liegenschaft vier Gebäude mit insgesamt 600 Plätzen benötigt.

 

Dieser Beschaffungsbedarf ist im Ausgangspunkt heranzuziehen, denn er bildet die Grundlage des nachfolgenden Vergabeverfahrens und ist damit auch für die Schätzung der daraus entstehenden Kosten / des Auftragswertes maßgeblich. Aus der Bekanntmachung über den vergebenen Auftrag zur Planung ergibt sich ausdrücklich, dass alle vier Gebäude umgesetzt werden sollen.

 

Damit dient die Errichtung einheitlich der Sicherstellung ausreichender Unterbringungskapazitäten für 600 Personen auf derselben Liegenschaft und weist eine funktionelle Kontinuität über alle Einzelbaumaßnahmen hinweg auf. Gestützt wird diese Sicht durch die Ausführungen auf der öffentlich einsehbaren Internetpräsenz des Auftraggebers zur fraglichen Liegenschaft. Der Sache nach ähnelt das vom Auftraggeber gewählte Vorgehen hinsichtlich der vier nahezu identischen Gebäude auch der Vergabe von Mengenlosen, mit denen der Gesamtbeschaffungsbedarf von 600 Unterbringungsplätzen gedeckt werden soll. Diese Sichtweise verdeutlicht, dass auch das Argument, dass die vier geplanten Gebäude technisch voneinander unabhängig seien und auch isoliert in vollem Umfang betriebsbereit seien, nicht entscheidend sein kann.

 

Bei Mengenlosen ist es regelmäßig so, dass die einzelnen Beschaffungsgegenstände auch für sich alleine nutzbar sind. Ihre grundsätzliche Selbständigkeit ändert jedoch nichts an der gebotenen Gesamtbetrachtung der einzelnen Beschaffungsmaßnahmen.

 

Dem steht auch nicht die im Nachprüfungsverfahren angeführte Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 12. Juni 2019 - Verg 52/18 entgegen. Dass diejenigen Bauabschnitte einer Gesamtbaumaßnahme als Einheit zu betrachten sind, die ohne die jeweils anderen Bauabschnitte keine sinnvolle Funktion erfüllen können (a.a.O.), rechtfertigt nicht den Umkehrschluss, dass solche Maßnahmen, die auch isoliert eine sinnvolle Funktion erfüllen könnten, stets als eigenständiger Auftrag zu betrachten seien. Dies ergibt sich auch nicht aus dem Beschluss des OLG Schleswig vom 28. Januar 2021 - 54 Verg 6/20. Soweit dort ausgeführt wird, die mögliche getrennte funktionale Nutzung führe zu der Annahme verschiedener Vorhaben, bezog sich die Entscheidung auf explizit unterschiedliche Gebäudetypen, nämlich ein Kongresszentrum und eine Messehalle, die im Übrigen auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten geplant wurden. Vorliegend hingegen wurde für einen Gesamtbedarf von 600 Unterbringungsplätzen eine einheitliche Planung durchgeführt und lediglich die Umsetzung der Bauvorhaben zeitlich gestaffelt. Eine Aufgabe des Beschaffungsvorhabens in Bezug auf die drei weiteren Gebäude, die dazu führen könnte, dass diese nicht in den Auftragswert zu addieren sind, ist nicht dokumentiert und auch sonst nicht ersichtlich. Eine Aufgabe der Beschaffungsabsicht folgt nicht aus der teilweise noch offenen Finanzierung der einzelnen Gebäude.

 

Die vom Auftraggeber vorgelegten Übersichten zur Haushaltsplanung enthalten im Gegenteil die Kostenpositionen zur Ausführung sämtlicher vier Gebäude, auch wenn noch nicht sämtliche Finanzbedarfe anerkannt wurden. Unsicherheiten bezüglich der zukünftigen Bereitstellung von Haushaltsmitteln stehen der Annahme eines einheitlichen Beschaffungsgegenstandes nicht entgegen. Vergaberechtlich können sie z.B. durch die Teilung des Auftrages in unterschiedliche Lose berücksichtigt werden, wobei spätere Teillose unter dem Vorbehalt der Finanzierung ausgeschrieben werden können (vgl. EuGH, Urteil vom 15. März 2012 - Rs. C-574/10).

 

Der bereits erfolgte Vertragsschluss mit der Beigeladenen steht dem Nachprüfungsantrag nicht entgegen. Grundsätzlich kann zwar gem. § 168 Abs. 2 GWB ein wirksam erteilter Zuschlag nicht von der Vergabekammer aufgehoben werden kann. Hier steht jedoch gerade die Unwirksamkeit des erteilten Zuschlages gem. § 135 Abs. 1 GWB in Frage. Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung ist von dieser - als die Statthaftigkeit wie auch die Begründetheit des Nachprüfungsantrags betreffender und damit doppelrelevanter Tatsache - entsprechend dem Vortrag der Antragstellerin auszugehen, die sich auf einen Verstoß des Auftraggebers gegen die europaweite Bekanntmachungspflicht mit der Folge der schwebenden Wirksamkeit des geschlossenen Vertrags beruft.

 

Fazit

Diese Entscheidung der VK Bund ist noch nicht rechtkräftig, da sofortige Beschwerde zum OLG Düsseldorf eingereicht worden ist (Verg 27/23). Sieht man sich einmal die hier in Bezug genommene Entscheidung des EuGH (Urteil im Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland vom 15.03.2012 - Rs. C-574/10) an, geht es dort zwar um Planungsleistungen von Architekten, wird der Begriff des funktionalen Zusammenhangs aber auf die in Rede stehende Mehrzweckhalle in einer hessischen Kommune bezogen, die durch einzelne Planungen im Ergebnis umfassend saniert werden sollte.

 

Ebenso wie in der Entscheidung des EuGH, Urteil vom 05.10.2000 - Rs. C-16/98 (Kommission gegen Frankreich), war die Einordnung als ein Bauwerk unproblematisch. In beiden Fällen entschied der EuGH danach, ob die Leistungen einen einheitliche Charakter in Bezug auf ihre wirtschaftliche und technische Funktion haben. Die Leistungen wiesen in wirtschaftlicher und technischer Hinsicht eine innere Kohärenz und eine funktionelle Kontinuität auf, die durch die Aufteilung dieser Leistungen in verschiedene Abschnitte entsprechend dem Rhythmus der Ausführung der Arbeiten, auf die sie sich bezogen, nicht als durchbrochen angesehen werden konnten. Hier aber handelt es sich um vier, wenn auch nahezu baugleiche Gebäude, die in dem Zusammenhang stehen, dass der Auftraggeber beabsichtigt, insgesamt 600 Unterbringungsplätze zu erschaffen. Man darf also gespannt auf die Beschwerdeentscheidung des OLG Düsseldorf sein.

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06.10.2023

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